Ich bin ein Weltbuerger aus Sinope. Vernetzung als Lebenskunst (2023)


1.Einleitung

    Inseinem 1993 erschienenen Buch Informationstechnologie und Gesellschaftschreibt Wilhelm Steinmüller:
      "Wasinformatisierte Gesellschaft bedeutet, ist in seinem negativen Aspektunter der Überschrift der Großtechnologie und des Sicherheitsstaatesabgehandelt worden. – In seinem positiven Aspekt sind konkreteUtopien (...) erst neuerdings bekannt geworden. Informatik-nahe Entwüfedagegen fehlen oder verbleiben im unverbindlich-wertkonservativ Prophetischen."
    Und erfügt hinzu:
    "DieSkala geht von der "informierten" (Ludwig Erhardt, Haefner 80) überdie "maßlos informierte" (Steinbuch 78) bis hin zur "human computerisierten"(Haefner 84b) "Informations-"Gesellschaft"." [29, 556 u. 809]
    Steinmüllerverweist anschließend auf eine "konviviale" – dieser Ausdruck stammtbekanntlich von Ivan Illich – Informationstechnologie-Gestaltung. Die Grenzendieses Ansatzes sind inzwischen bekannt: Steinmüller geht von Staatund Gesellschaft und deren Gestaltungs- und Regulierungsinstrumenten aus.Wir haben aber inzwischen mit der Globalisierung zu tun.

    Dieinformatisierte Gesellschaft ist die vernetzte Weltgesellschaft.Steinmüller wagte 1993 die folgende Prognose:

    "Mankann davon ausgehen, daß die Tendenz zur Vernetzung Ende der 90erJahre zu einem weltumfassenden Daten- und Kommunikationsverbund mit zahlreichenlokalen, nationalen, europäischen und internationalenNetzen für Wirtschaft, Staat und vor
    allemden wachsenden intermediären Bereich (der Verbände, Parteienund der Reproduktion) führt. Durch Industriefertigung und Computerpoweraus zentralisierten
    oderverteilten Großrechenzentren wird programmierte "Kommunikation" zurRegel, zwischenmenschliche Kommunikation immer mehr zur Ausnahme. Wirklichnutzen können diese mächtigen Instrumente allerdings nur Konzerneund
    Großforschungsanlagen– genauer all diejenigen, die aufgrund finanzieller oder anderer Machtressourcendazu ausgestattet sind." [29, 321-322]
    Nebenden Netzen für Materie und Energie sah Steinmüller einen drittenhistorischen Netztyp entstehen, nämlich das Datennetz. Inzwischenwissen wir, daß die Nutzer dieses Netzes nicht bloß Konzerneund Großforschungsanlagen sind. Wir wissen auch, daß die Gegenüberstellung:programmierte "Kommunikation" vs. zwischenmenschliche Kommunikation schonfür die heutige Weltvernetzung nicht zutrifft. Die von Steinmüllerbenutzte Metapher der "Fabrik für intellektuelle Arbeit" [29, 275]ist zu eng, um damit die Weltvernetzung zu kennzeichnen. Denn diesestellt keineswegs alle intellektuellen Dimensionen des Menschen inDienst der Arbeit und sie betrifft auch nicht nur den menschlichen Intellekt.

    Esist sicherlich noch zu früh, um Bilanz zu ziehen bezüglich derFrage was es heißt Menschsein in einer informatisierten Weltgesellschaft.Der Ausdruck Weltgesellschaft suggeriert eine Einheit, bei der alleUnterschiede nivelliert sind. In Wahrheit aber bringt das noch sehrjunge Phänomen der Globalisierung auf der Basis der Weltvernetzungkeine Angleichung aller kulturellen Unterschiede, sondern – wie UlrichBeck im Vorwort des Buches Perspektiven der Weltgesellschaft betont[1, 7ff] – eine Vermischung oder Hybridisierung. Dies macht für Beckden Unterschied zwischen Globalisierung und Globalismus aus [2]. Das heißtwiederum nicht, daß das Internet automatisch ein menschliches Weltbewußtseinbewirken könnte.

    Pointiertschreibt Beck:

    "DigitalesDenken, Computer-Spiele und ein Internet-Anschluß erzeugen noch keinenWeltbürger. Das Gegenteil ist wahrscheinlich: Alle bauen ihr eigenesSchneckenhaus-Leben – in der Hoffnung, der Taifun der Globalisierung mögesie verschonen und nur die Grundlagen und Gewißheiten, auf denender Nachbar sein Haus errichtet hat, durch die Luft wirbeln."[1, 10]
    Wir solltendabei bedenken, daß die Globalisierung als ein informationstechnischesPhänomen zwar neu ist, aber die Einsicht, daß wir in einer gemeinsamenWelt oder Sphäre (lat. globus) oder in einem kosmos(griech. Ordnung) leben, bis auf das frühe Griechentumzurückgeht. Gefragt nach seinem Heimatort, antwortete der KynikerDiogenes:
    "Ichbin ein Weltbürger" (kosmopolítes) [4].
    Die zuerwartende Antwort wäre natürlich 'aus Sinope' gewesen. Mit dieserAntwort hätte aber Diogenes seine provinzielle Herkunft in der WeltstadtAthen offenbart. Der Ausdruck ‚Weltbürger‘ (franz. cosmopolite,engl. citizen of the world) gehört zum Programm der Aufklärung.Der Gegensatz zwischen Weltbürgertum und Nationalstaat prägtedie politische Geschichte Europas in den letzten dreihundert Jahren [21].Roland Robertson hat den Begriff der Glokalisierung geprägt,um die Durchdringung des Globalen und Lokalen oder des Kosmopoliten unddes Lokalisten auszudrücken. Die heutige Diskussion ist von der Wahrnehmungder teilweise subtilen Verbindungen zwischen Universalisten und Partikularistengeprägt [25]. Entscheidend ist dabei, daß es sehr unterschiedlicheAusprägungen der kulturellen Hybridbildung geben kann. Die japanischenErfahrungen mit der Einverleibung der europäischen Moderne, auf diesich Robertson bezieht, sind insofern besonders interessant, weil sie dieMöglichkeit einer eigentümlichen japanischen oder, allgemeinerausgedrückt, einer nicht-europäischen Moderne vor Augen führen[34, 295]. Mit anderen Worten, Modernisierung und Technisierung ist nichtgleich Verwestlichung, Homogenisierung und Herrschaft der westlichentechnischen Zivilisation. Es gibt weder die europäische Modernenoch das Projekt der Moderne. Von den Erfahrungender Glokalisierung aus gesehen kann die Antwort des Diogenes anders ausfallen,nämlich: ‚Ich bin ein Weltbürger - aus Sinope‘.

    JürgenHabermas hat in einem Beitrag mit dem Titel Kants Idee des Ewigen Friedens.Aus dem historischen Abstand von 200 Jahren auf die verändertenBedingungen hingewiesen, die Kants Auffassung vom Weltbürgerrechtzugrunde liegen. Kant traute im Hinblick auf den Weltfrieden drei Tendenzen,nämlich der republikanischen Regierungsart, der Kraft des Welthandelsund der Funktion der politischen Öffentlichkeit. Er konnte aber nichtim voraus erkennen, daß Republiken sich zu nationalistischen Staatenentwickeln würden, wo die Menschen nur als Maschinen gebraucht wurden.Der freie Handelsgeist mündete in die kapitalistische Ausbeutung,in Imperialismus und Bürgerkrieg. Schließlich rechnete Kant"natürlich noch mit der Transparenz einer überschaubaren, literarischgeprägten, Argumenten zugänglichen Öffentlichkeit, die vomPublikum einer vergleichsweise kleinen Schicht gebildeter Bürger getragenwird." Dabei konnte er nicht voraussehen:

    "denStrukturwandel dieser bürgerlichen Öffentlichkeit zu einer vonelektronischen Massenmedien beherrschten, semantisch degenierten(sic! degenerierten? RC), von Bildern und virtuellen Realitäten besetztenÖffentlichkeit; er konnte nicht ahnen, daß dieses Milieu einer"sprechenden" Aufklärung sowohl für eine sprachlose Indoktrinationwie für eine Täuschung mit der Sprache umfunktioniert werdenwürde."
    Immerhinfügt Habermas diesen kulturkritischen Äußerungen folgendeshinzu:
    "DieseWeltöffentlichkeit zeichnet sich heute, in der Folge globaler Kommunikation,ab" [18, 11].
    Kant konntealso nicht mit der vernetzten Weltgesellschaft rechnen, auch wenn er die"durchaus hellsichtige Antizipation einer weltweiten Öffentlichkeit"hatte (ibid.) [7] [8]. Hinzu kommt, dass das Internet weder ein bloßesMassenmedium mit einer hierarchischen One-to-Many-Struktur nochein bloßes Individualmedium ist. Das Internet ist das Netz der Netze.Was ist aber ein Netz?

2.Was ist ein Netz?

    DerTopos des Netzes ist philosophisch und kulturgeschichtlich ein ergiebiges,bisher aber wenig ausgeschöpftes Thema. Das Deutsche Wörterbuchvon Jacob und Wilhelm Grimm belehrt uns über Bedeutung und Gebrauchdieses Wortes folgendermaßen:
    "I.ein aus weiten maschen bestehendes gestrick (...)
    II.das gewebe der spinnen (der netzspinnen), womit sie fliegenu. dgl. fangen (...)
    III.ein netzartiges, wie ein netz ausgebreitetes oder umschlieszendesgebilde (...)
    IV.ein webernest (...)
    V.ein netze oder garnstern (...)
    VI.der gelbe gitterfalter" [17, 635ff]
    wobeiöfter von den netzen des weibes oder von liebesnetzen dieRede ist! Fangnetze, vor allem zum Fisch- und Vogelfang, stellen die häufigstenBeispiele des klassischen Wortgebrauchs dar, angefangen mit den biblischenSzenen:
    "Alsbaldverließen sie ihre Netze und folgten ihm nach" (Matth. 4, 20)
    und demRat des auferstandenen und hungrigen Jesu am See Genezareth:
    "Werfetdas Netz zur Rechten des Schiffs, so werdet ihr finden"
    (Joh.21, 6).
    Netze,Fischernetze zumal, dienen also zum Lebensunterhalt, zugleich aberkann sich der Mensch in Netzen verstricken und selbst zur Beute werden.Als Odysseus die Freier tötete, lagen sie auf dem Boden
    "wieFische, welche die Fischer/aus dem bläulichen Meer ans hohle Felsengestade/imvielmaschigen Netz aufgezogen" (Od. 24, 386).
    Am Schlußvon Aischylos‘ Der gefesselte Prometheus warnt Hermes davor, eingöttliches Geschick für die Folgen unserer Unbesonnenheit verantwortlichzu machen:
    "dennwissentlich seid,/nicht eilig verlockt, nicht heimlich umgarnt,/ins unendlicheNetz des Verhängnisses jetzt/ihr verstrickt durch eure Verblendung!"(Prom. 1078).
    Netzesind also, so können wir ihre antike und über Jahrhunderte gebräuchlicheBedeutung zusammenfassen, ambivalent: Zum einen lebensdienlich, zum anderenumschlingend und tödlich. Die Spinnkunst ist, neben der Töpfermetapher,die klassische Leitmetapher für menschliches Denken und Handeln. DieSpinnenmetapher, so Ekkehard Martens, ist
    "insich vielschichtig, als Spinnen aus dem Bauch, mit der Hand und mit demKopf,
    undverweist auf ambivalente Erfahrungen mit der Kreativität." [22, 10]
    Die Ausdrücke:"den Faden verlieren" und "sich in den Netzen verfangen" dürftenden Alltag von SpinnerInnen wie InformatikerInnen und gewöhnlicheNetizens genau beschreiben.

    Wirverstehen heute das Wort Netz nicht mehr aus der Sicht einer Agrargesellschaftund verbinden damit, im Gegensatz zum überlieferten metaphorischenGebrauch, meistens positive, lebensdienliche und vor allem andere technischeKonnotationen als die der Fangnetze. Wir denken zum Beispiel an Straßen-und Schienennetze, an Telefonnetze und Flugverbindungen, an Stromnetzeund nicht zuletzt an das Internet. Dieses Wort hat außerdem inzwischeneine für viele Wissenschaften paradigmatische Erklärungsfunktion.Bücher wie Geist im Netz des Neurobiologen und PsychiatersManfred Spitzer [28] oder Lebensnetz des Physikers Fritjof Capra[5] machen für ein allgemeines Publikum verständlich undplausibel, wie etwa Bedeutungen landkartenförmig im Gehirn gespeichertwerden oder wie Ökosysteme auf der Basis eines komplexen Netzwerkesvon Beziehungen, dem Lebensnetz, funktionieren. DieGrenzen der computerbezogenen Netzmetapher und die Irrwege der KI-Forschungwerden zugleich paradoxerweise sichtbar. Dies hat alles handfeste Konsequenzenfür unsere Lebensgestaltung. Mit Bezug auf die Plastizitätunseres Gehirns schreibt Manfred Spitzer:

    "DasGehirn braucht in seiner Entwicklungsphase nicht Regeln, sondern guteBeispiele. (...) Wer täglich zwei Stunden Horror- und Gewaltfilmeanschaut (oder, schlimmer noch, seine Kinder anschauen läßt),der sollte wissen, daß dies Veränderungen im Gehirn bewirkt,die entsprechendes Verhalten begünstigen und damit letztlich zu mehrHorror und Gewalt in der realen Welt beitragen. Wir sind es gewohnt, sehrauf den Input für den Magen zu achten; im Hinblick auf unser wichtigstesOrgan, das Gehirn, ist uns der Gedanke an eine Diät sehr fremd." [28,335]
    Angesichtsdieser positiven Konnotationen des Netzbegriffs ist kein Wunder, daßübertriebene Erwartungen in Zusammenhang mit Computernetzen sichbreit machen. Gerhard Fröhlich nennt und kritisiert drei dieser Verheißungen,nämlich die Auflösung räumlicher Ungleichheiten, den freienFluß der Information und die Mühelosigkeit des Wissenserwerbs.Ferner weist er auf die Grenzen der sozialen Netz-Metaphernhin. Er schreibt:
    "Dieneuen Netzbegriffe (welche die Bedeutung des Fangnetzes weitgehend verlorenhaben) unterstellen Flachheit, gleich starke Fäden, gleichmäßiggestrickte Maschen, Egalität der Knoten, vermitteln zugleich auchein Gefühl der (nicht allzu einengenden) Zusammengehörigkeit.Das Netz ist eine Metapher für (mühe-)lose, jederzeit reversibleVergesellschaftung; "Vernetzung" steht für Vergesellschaftung "light"."[15, 303]
    Wir leben,so Fröhlich, teilweise in eng-, teilweise auch in weitmaschigen Netzen.Reale und virtuelle Verbindungen und, vor allem, Lücken bestimmenunser globalisiertes Leben. Wir verstehen uns nicht mehr primär, wiedie Moderne es wollte, als unteilbare Individuen, sondern als Durchgangund als Boten.

    Wirbenutzen zwar die heutigen informationstechnischen Netze, als ob sie bloßWerkzeuge wären, in Wahrheit aber sind wir selbst netzartig,wobei es bei dieser Kennzeichnung offen bleibt, was das Besondere des NetzwesensMensch [24] ausmacht. Wir sind Mit-Teilende oder In-Formierendesowie zugleich die von den Netzen her Bestimmten und In-Formierten.Wir sind die in symbolischen und technischen Gestalten Lebenden, die dasNaturleben in von uns geschaffenen technischen Netzen auffangen und unsdabei selbst reformieren, deformieren und transformieren. Wir suchen auchim neuen informationstechnischen Labyrinth nach einem Ariadnefaden. Derist aber, so Ekkehard Martens, "gerissen, hoffentlich" und er fügthinzu:

    "Wirmüssen endlich damit ernstmachen, ihn weiterzuspinnen, mit dem Kopf,aus dem Bauch und mit der Hand. Dabei gilt es gelassen zu unterscheiden,was in unserer Hand liegt und was nicht, auch, wann uns kreativesDenken und Handeln bloß als fremde Leistung abverlangt wirdund wann es eine notwendige und befriedigende Äußerung menschlichenDaseins ist." [22, 101]

3.Vernetzung als Lebenskunst

    Vielleichtist die Postmoderne - oder sollten wir sie lieber Cybermoderne nennen?- nicht der Schnee von gestern, sondern der Regen von morgen, der einigeder von der Moderne ausgetrockneten Felder – ich meine nicht die Sumpfgebiete– wieder zum Blühen bringen könnte. In einem Beitrag fürdie italienische Zeitschrift Telèma mit dem Titel Es istein Netz ohne Mittelpunkt, aber man bekommt einen Preis: die Freiheit,bemerkt Gianni Vattimo, daß
    diePhilosophen des 19. Jahrhunderts vom Bild des Motors und der Mechanik beherrschtwaren. Die Antipoden Heidegger und Adorno befürchteten dabeiden Verlust der Dimensionen von Unvorhersehbarkeit und Freiheit menschlichenExistierens. Mit dem Modell des Netzes wird aber eine neue Einstellungder Philosophie zur Technik und ihren existentiellen Auswirkungen möglich.Die Moderne ist die Zeit des Motors, des Reisens und der mechanischen Industrie.Sie gründet, philosophisch gesehen, in der Idee eines die Peripheriebewegenden Zentrums. Eine Idee, die sich kulturgeschichtlich in der Vorstellungeiner Europäisierung der Welt ausdrückte. Der Ausdruck Postmodernebedeutet in diesem Zusammenhang die Ablösung jenes Motormodells durchdie zunächst etwas vage Vorstellung eines Netzes, das eines letztenKnotens oder, wie die Philosophen sagen, einer Letztbegründung, nichtbedarf. Am Ende dieses Jahrhunderts läßt sich mitgutem Grund behaupten, daß die Philosophie angesichts des Sichgestaltensdes Netzes die Frage nach Freiheit und Geschichte überdenken muß[31].

    DieMotor-Metapher führte dazu, daß wir unser Selbst in einem Innerensetzten, in dem sich die Außenwelt reproduzierte und als Führungsquellefungierte. Unser Gehirn, so der Neurophilosoph Thomas Metzinger,bringt aber lediglich eine Ich-Illusion hervor, oder sogar nicht einmaldas, denn hinter dem Netzwerk unseres Gehirns verbirgt sich eigentlichNiemand, so daß wir mit Niemandem Ich-Illusion zu tun haben(Metzinger). Ich, pardon, Niemand denkt dabei an Odysseus und denKyklopen Polyphemos: Da lachte dem Odysseus die Seele vor Freude als ermerkte wie durch seine List die anderen Kyklopen dem Polyphemos nicht zurHilfe eilten, als dieser rief: "Niemand würgt mich" (Od. IX, 400ff).Mir scheint, daß Metzinger einer sozusagen kyklopischen Täuschungerliegt, denn er bleibt trotz und auch wegen der Netzmetapher in der modernenSubjektivität in Form ihres neuronalen Substrats gefangen. Er schreibt:

    "Alsphysische Systeme sind wir Wesen, die durch einen Schleier aus tanzenderInformation von sich selbst und der Welt getrennt sind." [23]
    Das Gehirn,eigentlich Niemand, wird zum Selbst- und Weltkonstrukteur. Ich nenne dieseForm von Konstruktivismus Zerebralismus. Die Alternative dazuist die ursprüngliche Vernetzung von Mensch und Welt oder das Geborenwerdenund Eingebettetsein in einem gegebenen, aber veränderbaren Netz vonBedeutungs- und Verweisungszusammenhängen, welches die Grundlage allerFormen technischer Vernetzung bildet. Unser Selbst finden wir nicht inunserem Gehirn, weder als Ego noch als Niemand, sondern wir sind selbstals diejenigen, welche durch symbolische und technische Vernetzungen dieuns ansprechenden Dinge in ihrem So-und-so-sein bereits im Alltag, aberganz besonders und ausdrücklich durch wissenschaftliche Theorien entwerfenund ihre Möglichkeiten und Zusammenhänge wie vorläufigauch immer verifizieren, falsifizieren und technisch realisieren und unsein zugleich symbolisches und technisches Zuhause oder eine Homepageeinrichten.

    SherryTurkle [30] und Esther Dyson [12] erzählen uns einige Geschichten,in welchen die Konturen einer Cyberkultur - unsere Erfahrungen mit Freiheitund Geschichte in einer vernetzten Weltgesellschaft - allmählich sichtbarwerden. Es ist, so Turkle, nicht eine Kultur der Berechnung, sondern eineKultur der Simulation, die sich "auf unsere Vorstellungen von Bewußtseinund Persönlichkeit, Körper und Identität, Selbst und Maschineauswirkt." [30, 10] Es ist eine Kultur, die sichdurch Attribute wie: dezentriert, fließend, nichtlinear, assoziativund undurchsichtig von der linearen, logischen und hierarchischen Industriekulturder Moderne unterscheidet [30, 22]. Nicht die Informatiker, sondern dieUser sind das Subjekt dieser Kultur. Der Schwerpunkt zwischenmenschlicherKommunikation verlagert sich, um es pointiert auszudrücken, vom faceto face zum interface. Undurchsichtigkeit bedeutet zugleichKomplexität und Dezentrierung. Die Komplexität der Kommunikationstechnologiewird zum Maßstab des Menschseins, nicht umgekehrt. Die romantischeBefürchtung der Inhumanität schwächt sich angesichts gelungenerund gescheiterter Alltagserfahrungen der Kultur der Simulation immer mehrab.

    SherryTurkle erblickt in den MUDs eine paradigmatische Form des Menschseins,deren Struktur, wie ich hinzufügen möchte, kaum etwas mit einerKommunikationsgemeinschaft à la Apel oder Habermas zu tunhat. Es ist eine schauspielerische Gesellschaft von Masken (lat.personae), von Verstellungen und Simulationen. Was dabei zum Ausdruckkommt, ist nicht mehr und nicht weniger als ein neues Ethos oderein Lebensstil, der der Vielfalt in uns selbst und in den anderen Rechnungtragen will und dabei Identität, Transparenz und Konsens auf der Folievon Undurchsichtigkeit, Rollenspiel und Dynamik sichtbar werden läßt.Eine multiple Persönlichkeit im pathologischen Sinne wird dannzum Symptom einer positiv aufzufassenden Vielfalt, deren Funktionierensich nicht mehr allein nach den modernen Maßstäben einesrationalen Diskurses von Vernunftwesen mit einer festen personalen(nationalen, ethnischen, sprachlichen, kulturellen usw.) Identitätrichtet, sondern diese immer wieder als vorläufiges Ergebnis einerSymbiose erblickt. Die Massenmedien sind das Spiegel der Moderne. Allmählichkommt die Rückseite dieses Spiegels zum Vorschein - im Spiegel derWeltvernetzung.

    GianniVattimo hat das von Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas proklamierteAufklärungsideal einer unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaftkritisiert [33]. Es ist letztlich das platonische Ideal einer Gemeinschaftvon Ideen oder In-Forma-tionen und einer transparenten Vernunftoder einer engelischen Gemeinschaft reiner Vernunftwesen. Die Globalisierungbringt, demgegenüber, eine Vielfalt von Gemeinschaften mit ihren partikulärenRationalitäten und eine komplexe Weltgesellschaft zum Vorschein. InFaktizität und Geltung stellt Habermas die ideale Kommunikationsgemeinschaftnicht als Ideal, sondern als eine Folie dar, "auf der dasSubstrat unvermeidlicher gesellschaftlicher Komplexität sichtbarwird." [19, 192] Unvermeidlich will sagen: leider wohl, dennHabermas blickt weiterhin auf die Selbstorganisation der Gemeinschaft alleinunter dem Blickpunkt diskursiver Verständigung mit dem Ziel der friedlichenBeilegung von Konflikten. Wenn er in diesem Zusammenhang von Kommunikationsmedienspricht, dann hat er die Massenmedien vor Augen, die eine abstrakteÖffentlichkeit herstellen [19, 452]. Wörtlich schreibt er:

    "Mitsteigender Komplexität der Massenmedien und wachsendem Kapitalaufwandgeht eine Zentralisierung der wirksamen Kommunikationswege einher." [19,455]
    Obwohler von der Öffentlichkeit als von einem "komplexen Netzwerk" spricht,das sich in einer Vielzahl von Arenen abspielt, kommt die eigentümlicheStruktur der durch die Weltvernetzung entstandenen Öffentlichkeitenin ihrer Undurchsichtigkeit, Pluralität und Mehrzweckverfassung nirgendsin den Blick. Mehr noch, diese Dimensionen, die das Menschsein bereitsin einem starken Maße prägen, werden durch die zugrundegelegteFolie ins Negative verdreht. Vilém Flusser unterscheidetin seiner Kommunikologie zwischen den dialogischen und dendiskursiven Medien. Dialogische Medien dienen der Erzeugung vonInformation und sie haben, so Flusser, die Struktur von Kreisen - wie "rundeTische" oder Parlamente - oder von Netzen - wie die Post und die Telefonsysteme.Diskursive Medien dienen der Verteilung und Bewahrung von Information undsie haben eine pyramidale, baumartige oder theatralische Struktur [14].Flusser befürchtet, daß die Amphitheaterdiskurse der Massenmedienletztlich die dialogischen Medien instrumentalisieren [14, 71]. Demgegenüberstellt das Internet eine von Flusser nicht vorgesehene Hybridformvon Dialog und Diskurs dar.

    Vattimoerwähnt mehrmals Heideggers Auffassung des Gestells als "einerstes, bedrängendes Aufblitzen des Ereignisses" [20, 27], und vergleichtsie mit dem von Walter Benjamin beschriebenen Schock des Kunstwerkesim Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit [32, 187] [32, 68ff].Das soll bedeuten, daß gerade mitten in der vernetzten Weltgesellschaft,in der alle Bezüge zwischen Mensch und Welt in die Instrumentalisierungder digitalisierten Sprache einzugehen scheinen, wir die Möglichkeithaben, diese Totalität selbst ästhetisch zu erfahren. Mit ästhetischerErfahrung meine ich eine Erfahrung der Befremdung, der Unbegründetheit,der Unheimlichkeit oder des Un-zu-Hause-seins, beider die Dinge in ihrem bloßen Da-sein erscheinen, indem sieaus dem gewöhnlichen Netz von Bedeutungs- und Verweisungszusammenhängenherausgenommen werden, so daß wir mit der nackten Tatsache ihresnicht weiter erklärbaren Daß-seins konfrontiert werden. Vattimoschreibt:

    "Währenddie einzelnen Dinge als in einem Netz von Verweisen, von Bedeutungsvollem(jedes Ding verweist als Wirkung, als Ursache, als Instrument, als Zeichenetc. auf andere) der Welt angehören, hat die Welt als solche, in ihrerGesamtheit, keine Verweise: sie ist unbedeutend; die Angst registriertdiese Insignifikanz, die völlig unhaltbare Tatsache, daßdie Welt existiert." [33, 71-72]
    In derGestalt der Weltvernetzung zeigt sich, mit anderen Worten, die Insignifikanzoder Bedeutungslosigkeit und Gratuität der Welt, ihr Umsonstcharakterund ihr Sichgeben, selbst. Anstatt das Netz zu einem starren Sieb zu verfestigenoder es womöglich mit Erlösungsphantasien aus der Wundertüteder Evolution zu befrachten, sollten wir auf seine konkreten lebensdienlichenFunktionen achten, indem wir seine Insignifikanz nicht vergessen. DieseErfahrungen gehören zum Kern einer Cyberkultur oder einer Lebenskunstim Informationszeitalter [10].

    Lebenin einer Cyberkultur bedeutet einmal mit Ähnlichkeiten undVerwandschaften vertraut zu sein. Diese können ganz unterschiedlichsein, wie die von Wittgenstein erwähnten Ähnlichkeiten zwischenBrettspielen, Kartenspielen, Ballspielen, Kampfspielen usw.:

    "Sagnicht: "Es muß ihnen etwas gemeinsam sein, sonst hießensie nicht "Spiele", sondern schau, ob ihnen allen etwas gemeinsamist. (...) Und das Ergebnis dieser Betrachtung lautet nun: Wir sehenein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifenund kreuzen. Ähnlichkeiten im Großen und Kleinen." [35, 66]
    Dieseantiplatonische Ideenvernetzung zielt also nicht auf die Herausarbeitungdes begrifflichen Eidos oder der Form einer einheitlichensozusagen in-formierten oder uni-formierten Menschheitskultur,sondern sie ist eine Kultur unterschiedlicher, aber doch vernetzter Stile.Lebenskunst im Cyberspace bedeutet vor allem nicht, wie Wilhelm Schmidmeint, die Frage nach der Selbstmächtigkeit des Individuums gegenüberden Machtstrukturen der vernetzten Weltgesellschaft zu stellen, so daßder Einzelne in einer "Fundamentalwahl" entscheiden kann, ob er überhauptein Leben in der medialen Vernetzung leben will oder nicht [26, 208]. Einesolche Fundamentalwahl ist zwar möglich und als Selbstwahl legitim,aber sie wirkt reaktiv und nicht selten reaktionär, wenn sie sichauf die Bedingungen bezieht, unter denen sie selbst steht. Sie trivialisiertund instrumentalisiert dabei diese Bedingungen zu einem Gegenstand derWahl und überhöht nach dem Muster der Moderne die Wahlfreiheitdes Individuums. Die "gelassene Führung im kybernetischen Raum"[26, 137] ist das Ergebnis eines Sicheinlassens auf eine neue Erfahrungdes Selbst- und Mitseins im Horizont der digitalen Vernetzung, ohne dieRückendeckung des modernen autonomen Individuums. Auch die entgegengesetzteVorstellung einer angeblichen Mächtigkeit des Subjekts gegenüberdem Netz übersieht die eigentliche Herausforderung, die darin besteht,nicht aus dem Netz auszusteigen oder sich ihm auszuliefern, sondern sichals Vernetztsein zu verstehen, indem die räumliche und zeitlicheWeite des gemeinschaftlichen Existierens im Horizont der digitalenWeltvernetzung erfahren und ausgeübt wird. Das bedeutet in der Tateine konkrete Seinsbestimmung der Offenheit menschlichen Selbst- und Mitseins.

    Einigesdeutet darauf hin, daß allmählich eine Kultur entsteht, dieden durch die Buchkultur hervorgebrachten Umwälzungen nicht nachsteht.So wird heute zum Beispiel der freie Zugang zum Netz (freedom of access)mit demselben Eifer proklamiert und verteidigt, wie früher die Pressefreiheitoder die Redefreiheit. Die globale Vernetzung ist die Art und Weise, wiewir heute jene Totalität erfahren, die die Metaphysik das Seiendeim Ganzen nannte. Unseren Zugang zur Realität bezeichneich in Abwandlung des Satzes von Berkeley: "Das Sein der Dinge sei ihrWahrgenommensein" ("Their esse is percipi") [3, 62] mit demSatz: esse est computari. Das bedeutet keineswegs, alles sei bloßvirtuell, sondern es bedeutet, daß wir meinen, etwas in seinem Seinerklärt und verstanden zu haben, wenn wir es digitalisieren. Wir leben,mit anderen Worten, im Horizont einer digitalen Ontologie. Die sogenannteVirtualität ist bereits
    aufmassive Weise unsere Alltagsrealität. Der vielleicht radikalste Wandel,den wir zur Zeit erleben, ist, neben dem Wandel unseres Verhältnisseszur Sprache, der Wandel unseres Im-Raum- und In-der-Zeit-seins. Wo sindwir, wenn wir im Netz sind? Wir sind zwar hier und jetzt, in Sinopezum Beispiel, aber wir lösen mit unserem digitalen und symbolischenHandeln eine Wirkung dann und dort, irgendwo in der Welt, aus. Indiesem informationellen Wirkungszusammenhang gilt: actio non est reactio[13]. Und ferner: die symbolische Fernwirkung oder actio digitalis indistans dieses digitalen Handelns überschreitet von Anfang andie Grenzen des physikalischen Mediums. Das Schlagwort von der Globalisierungsteht für die konkreten Folgen dieser veränderten Möglichkeitenunseres In-der-Welt-seins in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft.

    Gegendie These esse est computari lassen sich folgende Einwändevorbringen:
    1)Wenn diese These stimmt, dann bedeutet dies eine Überbietung und keineÜberwindung der Moderne;
    2)Die These gilt nicht, wie wir spätestens seit Gödel wissen;
    3)Die These gibt den Stand der Diskussion in der Informatik in den 70er Jahrenwieder.

    Inzwischenhat die Informatik diese These hinter sich gebracht, etwa zugunsten derAuffassung, daß das Sein das Gestaltet-sein ist.

    Dazumöchte ich folgendes sagen. Ich bin selbst kein Vertreter oderVerteidiger dieser These. Ich meine, daß sie zwar eine möglicheAntwort auf die Frage: Was bedeutet ‚Sein‘? darstellt, ohne aberdiese Frage selbst zu thematisieren. Ich meine aber auch, daß sienicht nur eine weit verbreitete These ist, sondern, mehr noch, daßsie den ontologischen Glauben unserer
    Zeitwiedergibt, vergleichbar zum Beispiel dem Materialismus im 19. Jahrhundert.Ich halte diese These zugleich für eine Überbietung undeine Überwindung - es wäre besser hier, in Anschluß anHeidegger und Vattimo von Verwindung zu sprechen - der Moderne.Sie ist eine Überbietung der Moderne, weil sie die Berechenbarkeitdes Seins technisch dingfest macht. Und sie ist zugleich eine Überwindungoder Verwindung der Moderne, weil sie die technische Berechnung nur aufder Basis eines Auswahlprozesses durchführen kann. Was daraus hervorgegangenist, ist kein Weltkalkül, sondern eine Weltvernetzungmit den oben angedeuteten Zügen von Dezentralisierung, Nichtlinearität,Undurchsichtigkeit und, paradoxerweise, Unberechenbarkeit. Letzteres liegtnicht nur darin begründet, daß keine Technik absolute Sicherheitbieten kann, sondern auch darin, daß die Weltvernetzung ein ‚flüssiges‘oder unbeständiges Medium darstellt, in dem sich unsere eigene menschlicheUnbeständigkeit widerspiegelt. Das Netz ist trotz oder geradeaufgrund der prekären Behausung in Form von Homepages, einun-heimliches Medium. Damit wäre auch eine hinweisende Antwort aufden zweiten Einwand gegeben.

    Dendritten Einwand könnte man wie folgt ins Lateinische übersetzen:esse est informari. Denn das lateinische Wort informatio,von dem sich unser Begriff Information ableitet, ist eine Übersetzungder bedeutungsschweren griechischen Begriffe idea, eidos, morpheund typos, die allesamt mit dem Vorgang des Gestaltens oderFormgebens im materiellen und/oder geistigen Sinne zu tun haben [11]. Seinals idea ist die Grundeinsicht der platonischen Metaphysik. Auchwenn wir dies heute nicht auf der Grundlage der geistigen, sondernder technischen Software tun, dann bedeutet diese These (esseest informari) eine Wiederholung im Sinne einer Erwiderung griechischerMetaphysik. Mit anderen Worten, der Einwand will über die neuzeitlicheBerechenbarkeit hinaus, indem er auf ihre vorausgehende metaphysische Grundlagezurückgreift. Ich meine, daß wir nur dann zu einem gelassenenAbstand gegenüber der Moderne oder zu einer Verwindungder Moderne gelangen können, wenn wir die Seinsfrage als Seinsfrageoffenlassen und wachhalten. Der Ausdruck Cybermoderne will dieseSpannung zwischen Überbietung und Überwindung der Moderne festhalten.

    DieSchrift und insbesondere die Buchkultur hatte uns zu Textdeutern mutiert.Die vornehmste Aufgabe unseres (westlichen) Menschseins wurde aus dieserSicht und in Anlehnung an die Deutungskunst des griechischen Gottes HermesHermeneutik genannt. Hans-Georg Gadamer veredelte dann die Texthermeneutikzu einer philosophischen. Im Artikel Hermeneutik des HistorischenWörterbuchs der Philosophie schreibt er:

    "Hermeneutikist die Kunst des hermeneuein, d.h. des Verkündens, Dolmetschens,Erklärens und Auslegens, "Hermes" hieß der Götterbote,der die Botschaften der
    Götterden Sterblichen ausrichtet." [16, 1061]
    Ich meine,daß die Hermeneutik uns nur sozusagen die Hälfte der Geschichteerzählt. Denn um etwas zu deuten, muß das, was zu deuten ist,erst mitgeteilt worden sein. Das Verkünden ist die zuerst genannteAufgabe des Götterboten, die aber von der Hermeneutik nicht wahrgenommenwerden kann, weil sie sie voraussetzt. In Ableitung des griechischen Wortesangelia (Botschaft) spreche ich in diesem Zusammenhang von einerAngeletik oder einer (philosophischen) Theorie der Botschaft, beider es um die angeletische Bestimmung unseres Menschseins geht [9].Meine These ist nun, daß wir uns auf der Grundlage der digitalisiertenWeltvernetzung als digitale Boten verstehen und unser Leben dementsprechendgestalten. Eine empirische Erörterung dieser These dürftebei den Massenmedien beginnen und über Fax, Telefon, Handy und E-Mailzu den verschiedenen Vernetzungsstrukturen (one to many, many to many,many to one) im Internet führen. Peter Sloterdijk bezeichnet unsereWeltsituation als die "Epoche der leeren Engel",
    "woalle Botschafter sein wollen, aber niemand sich darum bemüht, eineBotschaft zu empfangen." [27, 75]
    Der anthropologischeWandel unserer Zeit beruht nicht nur auf der Erfindung derneuen Medien, sondern auf dem Bewußtsein, daß wir deshalb Medienerfinden, weil wir selbst Medien und Boten sind. Während wirin früheren Epochen durch unterschiedliche Arten von heiligen frohenBotschaften (euangelion) bestimmt waren, leiden wir jetzt untereiner Desakralisierung und Entleerung, oder einem "Dysangelium" (Sloterdijknach Nietzsche: Der Antichrist, Ullstein, Bd. 3, S. 646). Wenn wir aberan die zum Teil katastrophalen kulturellen Auswirkungen von sakralen oderdogmatisierten Botschaften zum Beispiel in der europäischen Kolonialzeitdenken, ist dies eine heilsame Entwicklung. Die Kehrseite davon ist freilicheine maßlose quantitative Steigerung von Boten und Botschaften allerArt, die teilweise, wie im Falle der Massenmedien, das Erbe der sakralenund hierarchischen One-to-many-Struktur antreten.

Schluß

    DerSinn von Bote und Botschaft verändert sich entsprechend dem jeweiligengeschichtlichen Kontext. Er ist in einer mythischen Kultur anders als imphilosophischen Kontext der sokratischen Gesprächstechnik. Er verändertsich durch das Christentum mit seinem missionarischen Auftrag. Aufklärungund Buchkultur verbreiten das Ideal der Zensurfreiheit. Im Horizont derdigitalen Weltvernetzung erreichen Boten und Botschaft ein Maximum an Universalitätund Gleichzeitigkeit [7].

    Wersind wir, wenn wir im Cyberspace sind? Esther Dyson teilt uns ihre Erfahrungfolgendermaßen mit:

    "Allediese Botschaften sind der Preis dafür, daß ich ziemlich berühmtgeworden bin: Jetzt können mir Fremde anonym schreiben und meine Ruhestören. Ich könnte sie herausfiltern und E-Mail nur von Menschenentgegennehmen, die ich kenne; doch das wäre lächerlich. In Zukunftwerde ich wohl noch exponierter sein und noch mehr E-Mail bekommen: hilfreicheund erhellende Sendungen ebenso wie völlig belanglose und solche,die mich verletzen sollen. Das ist der Preis, den ich zu zahlen habe, und
    daswird mir immer klarer. Und doch habe ich die Wahl." [12, 328]
    Wer sindwir, wenn wir im Cyberspace sind? Offenbar sind wir diejenigen, diewir uns selbst im Medium der digitalen Weltvernetzung exponieren,will sagen Botschaften aller Art "urbi et orbi", für Sinopeund die Welt, senden und empfangen. Im Gegensatz zu den Expositionen derMassenmedien stellen wir uns selbst als Boten her und aus.

    DieCyberkultur ist eine Boten- und Botschaftskultur. Wer sind wir, wenn wirim Netz sind? Wir sind Weltboten aus Sinope.

Literatur

    1.Beck, U. Hrsg.: Perspektiven der Weltgesellschaft. Frankfurt a. M. 1998

    2.Beck, U.: Was ist Globalisierung? Irrtümer des Globalismus – Antwortenauf Globalisierung. Frankfurt a. M. 1997.

    3.Berkeley, G.: The Principles of Human Knowledge. In: ders.: PhilosophicalWritings. London 1965.

    4.Busch, H.J., Horstmann, A.: Stichworte: Kosmopolit, Kosmopolitismus (1.).In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Stuttgart 1976, Bd. 4,Sp. 1155-1558.

    5.Capra, F.: Lebensnetz. Ein neues Verständnis der lebendigen Welt,Darmstadt 1996.

    6.Capurro, R.: Das Internet und die Grenzen der Ethik.Eine neue Informationsethik stellt sich den Ergebnissen der Medienwirkungsforschung.In: M. Rath (Hrsg.): Medienwirkungsforschung und Medienethik (1999) (i.Dr.)

    7.Capurro, R.: On the Genealogy of Information.In: K. Kornwachs, K. Jacoby Eds.: Information. New Questions to a MultidisciplinaryConcept, Berlin 1996a,
    S.259-270.

    8.Capurro, R.: Informationsethik nach Kant und Habermas.In: A. Schramm, Hrsg.: Philosophie in Österreich, Wien 1996b, S. 307-310.

    9.Capurro, R.: Hermeneutik im Vorblick.

    10.Capurro, R.: Leben im Informationszeitalter, Berlin1995.

    11.Capurro, R.: Information. Ein Beitrag zur etymologischenund ideengeschichtlichen Begründung des Informationsbegriffs, Münchenu.a. 1978.

    12.Dyson, E.: Release 2.0. Die Internet-Gesellschaft, München 1997.

    13.Fleissner, P.: Actio non est Reactio (1995). http://www.jrc.es/~fleissne/actio_non_est_reactio.html

    14.Flusser, V.: Kommunikologie, Mannheim 1996.

    15.Fröhlich, G.: Netz-Euphorien. Zur Kritik digitaler und sozialer Netz(werk)metaphern.In: Schramm, A. Hrsg.: Philosophie in Österreich, Wien 1996, S. 292-306.

    16.Gadamer, H.-G.: Art. Hermeneutik. Im: Historisches Wörterbuch derPhilosophie, Bd. 3, 1974.

    17.Grimm Jacob, Grimm Wilhelm: Deutsches Wörterbuch (1889) DeutscherTaschenbuch Verlag 1952.

    18.Habermas, J.: Kants Idee des Ewigen Friedens. Aus dem historischen Abstandvon 200 Jahren. In: Information Philosophie, Dezember 1995, Nr. 5,S. 5-19.

    19.Habermas, J.: Faktizität und Geltung. Frankfurt a.M. 1998.

    20.Heidegger, M.: Der Satz der Identität. In: ders.: Identität undDifferenz, Pfullingen 1976.

    21.Horstmann, A.: Stichworte: Kosmopolit, Kosmopolitismus (2.). In: HistorischesWörterbuch der Philosophie, Stuttgart 1976, Bd. 4, Sp. 1158-1167.

    22.Martens, E.: Der Faden der Ariadne. Über kreatives Denken und Handeln,Stuttgart 1991.

    23.Metzinger, Th.: Niemand sein. Kann man eine naturalistische Perspektiveauf die Subjektivität des Mentalen einnehmen? (1995)
    In:http://www.uni-giessen.de/~gm1001/texte/niemand.htm

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    25.Robertson, R.: Glokalisierung: Homogeneität und Heterogeneitätin Raum und Zeit. In: Beck, U. Hrsg.: Perspektiven der Weltgesellschaft.Frankfurt a. M. 1998, S. 192-220.

    26.Schmid, W.: Philosophie der Lebenskunst, Frankfurt a.M. 1998.

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    28.Spitzer, M.: Geist im Netz. Modelle für Lernen, Denken und Handeln,Darmstadt 1996.

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    30.Turkle, S.: Leben im Netz. Identität in Zeiten des Internet, Reinbekb. Hamburg 1998.

    31.Vattimo,G.: È une rete senza centro ma ci dà un premio: la libertà.In: Telèma 3 (1997) S. 3-5.

    32.Vattimo, G.: Das Ende der Moderne, Stuttgart 1990.

    33.Vattimo, G.: Die transparente Gesellschaft, Wien 1992.

    34.Weinmayr, E.: Entstellung. Die Metaphysik im Denken Martin Heideggers.Mit einem Blick nach Japan, München 1991.

    35.Wittgenstein, L.: Philosophische Untersuchungen. Werkausgabe Bd. 1, Frankfurta.M. 1984.

LetzteÄnderung: 10. Oktober 2002
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Last Updated: 25/06/2023

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